Hallo Freunde der Nacht!
Es geht weiter in der Welt Zwischen Göttern und Teufeln, in der sexy Vampire noch Menschenblut trinken und die Menschen nicht unschuldige Opfer sind, sondern auch hart zurückschlagen können.
Viel Spaß und ein dunkles Lesevergnügen. Eure Laya Talis
Bitte beachten:
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Sophia
Außer
Atem lehnte sich Sophia mit ihrer Schulter gegen die Mauer des roten
Backsteinhauses und suchte mit Blicken die Umgebung ab.
Mist. Wo war sie nur?
Sophia
hatte im Stadtpark mehrere Fotos von einer toten Amsel geschossen. Den Vogel
hatte sie im Rasen unter einer Eiche gefunden. Das schwarz gefiederte, tote
Tier im Gras liegen zu sehen, hatte sie bewegt und nachdenklich gemacht. Der
Vogel lag auf seinem Rücken, die schwarzen Schwingen dicht an seinen Körper
angelegt und die Füßchen gekrümmt, als wolle es sich noch an einem Ast
festkrallen, so als wäre er noch nicht bereit dazu, sein Leben loszulassen. Wie
viele Menschen waren schon an ihm vorbeigegangen, ohne ihn zu beachten? Wieso
sollte das auch jemand tun? Wen kümmerte schon der Tod eines Vogels? Aber eine
andere Amsel würde es vielleicht bekümmern. Gab es hier irgendwo einen anderen
seiner Art, der ihn vermisste? Oder gingen, flogen,
sie alle weiter und verharrten nicht für eine Sekunde an seinem Totenbett?
Sophia
fragte sich, wer an ihrem eigenen Grab stehenbliebe, wer sie vermissen würde.
Lilli? Ja, natürlich. Lilli würde sie vermissen. Ein Jahr, vielleicht auch zwei
Jahre lang. Sie waren Freunde, aber für Lilli war Sophia nicht mehr, denn der
blondgelockte Engel hatte noch eine Familie. Ihr Leben würde sich ohne Sophia
nicht einschneidend ändern … Und was war mit Alex? Nein, für ihn war sie schon
längst kein Teil seines Lebens mehr. Sophia streichelte betrübt ihren Bauch.
Würde es jemanden geben, der sich um ihr Baby kümmerte, wenn sie nicht mehr da
wäre? Es lieben würde?
Während
Sophia diesen düsteren Gedanken nachgehangen war, hatte sie plötzlich die
seltsame kleine Frau bemerkt, die sie schon einige Male beobachtet hatte. Sie
hockte gute zehn Meter von ihr entfernt, mit nackten Füßen und mit einem
langen, schwarzen Mantel bekleidet, auf einem der unteren, dicken Äste einer
alten Buche.
Sophia
hatte endlich einen kurzen Blick in ihr blasses, herzförmiges Gesicht erhaschen
können, bislang war es immer von ihrer Kapuze verdeckt gewesen.
Mein
Gott.
Die
Fremde war bildschön. Die Augen, groß, rund und stechend schwarz, hatten aus
einem weißen, ebenmäßigen Gesicht zu ihr geblickt. Volle, bleiche Lippen eines
bezaubernd verführerisch geschwungenen Mundes, waren zu einem spöttischen
Lächeln verzogen. Eine gerade Nase und perfekt gebogene Augenbrauen
komplettierten die verwirrende Mischung einer sinnlichen, aber unschuldig
wirkenden, exotischen Schönheit. Ihre Züge waren sehr fein modelliert und
scharf geschnitten. Ihre Haut war weiß wie Alabaster und bar jeden Makels und
jeder Falte, als trüge sie eine wächserne Maske. Eine Maske, die lockte,
verführte, verzauberte … aber Sophia ahnte, dass das, was sich dahinter
verbarg, nichts von der Unschuld besaß, die ihr Anblick vortäuschte.
Einen
Lidschlag später war die Fremde elegant wie eine Katze von dem Baum gesprungen
und begann sich mit langsamen Schritten von Sophia fortzubewegen.
Sophia
hatte nicht gezögert und war ihr entschlossen mit geschultertem Rucksack
nachgelaufen. Jetzt war Schluss! Sie wollte wissen, wer diese Person war. Doch
immer wenn Sophia ihr Tempo erhöht hatte, war auch die Fremde schneller
geworden, so dass sich der Abstand zwischen ihnen nicht veränderte.
So
liefen sie seit über einer Stunde durch die Stadt, als spielten sie ein
absonderliches Spiel gegeneinander, bis es Sophia hierher gebracht hatte und
die Fremde plötzlich verschwunden war. Sophia war auch schon am Ende ihrer
Kräfte. Sie war zwar trotz ihrer Schwangerschaft gut in Form, da sie noch immer
täglich weite und lange Spaziergänge unternahm, aber dieses Tempo saugte ihre
letzten Reserven auf.
„Wo
bist du?“, flüsterte Sophia. Sie rechnete natürlich nicht mit einer Antwort,
umso erschrockener war sie, als sie eine bekam.
„Hinter
dir!“, hörte sie eine kindlich-hohe Stimme.
Laut
einatmend wirbelte Sophia herum und da stand sie. Mist, diese Fremde war vielleicht schnell und leise! Just in dem
Augenblick, in dem sie sich endlich gegenüberstanden, begann es zu dämmern und
die Frau schaute prüfend zum Himmel, die Augen zu zwei Schlitzen
zusammengezogen. Sie war sehr zierlich und klein, höchstens einen Meter
sechzig, so dass Sophia sie locker um einen halben Kopf überragte.
„Du
weißt nicht, wer du bist? Oder doch?“, fragte die Fremde und sah wieder zu
Sophia. Sie legte ihren Kopf leicht schräg, das Gesicht halb im Schatten, und
musterte Sophia ausgiebig und ungeniert von oben bis unten. Ihre Worte schienen
einer eigenen Melodie zu folgen, wobei sie das ´R´ auffällig rollte und die
Vokale in die Länge zog. Sophia konnte diesen Akzent keinem Land zuordnen, aber
er passte zu ihr. Er klang einerseits schmeichelnd und verführerisch, und doch
unterstrich er ihre Jugend und ließ sie verletzlich wirken. Sie sah nicht älter
aus als achtzehn Jahre. Der Blick aus ihren Augen, die sich bei Nahem als
dunkelbraun entpuppten, war dagegen alt. Es lag eine Tiefe und Erfahrung darin,
welche eine so junge Frau nicht besitzen sollte. Diese Augen hatten zu viel
gesehen. Zu viel – Wissen lag in ihnen.
„Sagen
Sie mir sofort, wer sind Sie und wieso Sie mir folgen!“ Sophia hob fragend ihre
linke Augenbraue und verzog missbilligend den Mund.
Die
Fremde schnalzte verärgert mit ihrer Zunge. „Ah, wer ich bin? Du folgtest doch
soeben mir, nicht wahr? Und muss man nicht erst sich selbst kennen, bevor man
andere zu erkennen in der Lage ist?“
Sophia
tat einen Schritt zurück. Was war das denn für eine schwachsinnige Antwort? Die
Fremde lächelte sie erneut an und wandte ihren Kopf so, dass das Licht einer
Straßenlaterne ihr Gesicht beschien und kein Schatten mehr etwas von ihr im
Verborgenen hielt. Oh Gott. Sophia
hatte noch nie jemanden gesehen, der dermaßen schön und – perfekt aussah! Zu
perfekt, um noch natürlich auszusehen. Zudem verliehen die Makellosigkeit ihrer
Haut und der blasse Teint ihrer Züge eine Starre, als wäre sie leblos wie eine
Statue. Unfassbar schön, aber dennoch aus Stein.
Sophia
fröstelte es bei ihrem Anblick. Flieh!
Flieh so schnell du kannst! schallte es in ihrem Kopf. Es war bezwingend
wie ein Befehl, wie ein … Befehl. Sophia kämpfte gegen diesen
durchdringenden Instinkt, der sie zur Flucht rief, mit all ihrer Willensstärke
an. Denn er war irrational, nur auf niedere Gefühle von Angst zurückzuführen,
die nüchtern betrachtet keinen Sinn ergaben. Vor ihr stand eine kleine,
schmächtige Frau und sie beide befanden sich in einem Wohnviertel. Kein Ort für
einen Angriff und wenn die Fremde nicht bewaffnet war oder eine Kampfausbildung
genossen hatte, sollte sie auch für Sophia in ihrem schwangeren Zustand keine
Gefahr darstellen. Ganz abgesehen davon, dass ihr plötzliches Auftreten
erstaunlich war, war ihr Verhalten nicht bedrohlich. Wieso versuchte alles in
Sophia sie dennoch zu zwingen, sofort wegzurennen?
„Sie
beobachten mich. Ich habe Sie vor meiner Wohnung gesehen und deswegen bin ich
Ihnen eben nachgerannt. Also! Was wollen Sie von mir und wer sind Sie?“, fragte
Sophia und legte ihre Hände wie zum Schutz auf ihren Bauch. Sofort folgte die
Fremde mit ihrem Blick dieser Bewegung und das maskengleiche Gesicht wurde noch
verschlossener. Die dunklen Augen dominierten das schöne Gesicht, vor allem
wegen des stechenden Blickes, der bei Anna eine Gänsehaut verursachte.
Flieh! Flieh!
„Oh
ja. Ich beobachtete dich bereits seit einigen Wochen und ich bemerkte sofort,
dass du ein Kind trägst, Sophia.“ Die Schöne versuchte nicht
einmal zu verbergen, dass sie ihr nachgestellt hatte. Dass sie sie auf ihre
Schwangerschaft ansprach, steigerte Sophias vernunftwidrige Furcht.
Flieh! Flieh!
Sie kennt meinen
Namen, wunderte
sich Sophia und schaute sich gleichzeitig um. Sie waren allein, denn um diese
frühe Stunde ließ sich niemand auf der Straße oder in den gepflegten Vorgärten
sehen. Es war offensichtlich kein guter Zeitpunkt, sich mit seiner unbekannten
Stalkerin zu treffen.
„Sie
kennen meinen Namen, aber ich nicht Ihren. Also, wer sind Sie?“, beharrte
Sophia tapferer weiter, als sie sich fühlte. Der Trieb davonzurennen, sich zu
verstecken, wurde immer größer.
Flieh, flieh so
schnell du kannst. Niemand darf dich finden.
„Ah,
ich kenne deinen Namen, aber kennst du ihn auch? Leider nicht, nicht
wahr?“, fragte die kleine Frau und zog die schwarze Kapuze ihres Mantels tiefer
ins Gesicht, so dass Sophia nur noch ihren Mund erkennen konnte. „Das ist
höchst bedauerlich.“
„Was?
Was …?“ -soll dieser ganze Unsinn!
Sophia seufzte und entschied, die Frau nochmals freundlich zu fragen: „Wer sind
Sie?“, während sie den Abstand zu ihr vergrößerte.
„Ich
bin Madleen. Sophia … Sophia Winter. Wieso nennst du dich nicht Herbst oder
Frühling?“ Sie kicherte. „Der Winter ist doch so kalt. Wer mag ihn schon, ah?“
Madleen? Madleen … Sophia unterdrückte ein Schaudern. Nur die Nennung dieses
Namens, ließ ihre Instinkte erneut aufschreien.
Renn so schnell du
kannst! Niemand darf dich finden.
Madleen
kicherte schon wieder. Es klang wie das Lachen eines kleinen Mädchens. Eine
Spur spöttisch, mit einer Prise Bosheit darin. Ein gemeines, kleines Mädchen.
Die Art von kleinem Mädchen, das ihren Puppen die Köpfe abriss. „Sophia Winter.
Ah! Wie erheiternd. Nein, meine junge Freundin. Das ist nicht dein Name.“ Sie
kam mit zwei tänzelnden Schritten auf Sophia zu und schielte unter ihrer Kapuze
zu ihr herauf. „Du riechst gut.“
Du riechst gut? Um der aufgezwungene Nähe
auszuweichen, trat Sophia ein Stück zur Seite, dichter an die Hauswand heran.
„Ich weiß nicht, wovon Sie sprechen. Ich will, dass Sie sich von mir
fernhalten!“, sagte Sophia und neben ihrer größer werdenden Furcht, wurde sie
auch wütend. Die befehlende Stimme in ihr, mehr Gefühl als ausgesprochene
Worte, schrie immer lauter.
Flieh! Verstecken!
Niemand darf dich finden!
„Das,
liebe junge Freundin, kann ich nicht tun. Ich habe Jahre nach dir gesucht und
werde dich nicht wieder gehen lassen. Ich muss wissen … ich-“, sie gab ein
schnurrendes Geräusch von sich und anstatt ihren Satz endlich zu beenden sagte
sie: „Du gehörst mir.“
„Wie
bitte? Ich gehöre Ihnen ganz bestimmt nicht. Sind Sie vielleicht betrunken?“
Sophia hörte, wie ein Motor gestartet wurde.
Madleen
kicherte wieder. „Ich habe heute Nacht noch nicht getrunken. Bietest du dich
mir an?“
„Ich
… Was?“
Sophia blinzelte verwirrt. Das war eine Verrückte. Mist. Vor ihr stand eine verrückte Stalkerin.
„Du hast die gleichen Augen
wie dein Vater, die gleichen Züge und die gleiche Mimik.“ Diese seltsame
Bemerkung klang wie ein Vorwurf und Madleen tänzelte erneut auf ihren nackten
Füßen näher zu Sophia heran. Eine Nähe, die Sophia das Blut in den Adern
gefrieren ließ. So klein Madleen auch war, strahlte sie plötzlich trotzdem eine
ungeheure Macht aus, als hätte sie sie vorher bewusst verborgen. Sie umgab eine
kühle Aura, die Sophia nicht sehen aber als leichtes Kribbeln auf ihrer Haut
spüren konnte.
Flieh!
Flieh!
„Ah,
was geht nur in deinem Kopf vor? Ich kann es nicht ergründen. Du bist nicht nur
das Ebenbild deines Vaters, sondern offensichtlich auch genauso … ah, dickköpfig
wie er. Das mag ich nicht“, knurrte Madleen und zog sich die Kapuze so tief in
die Stirn, dass ihr Gesicht beinahe ganz darunter verschwand.
„Sprechen
Sie nicht von meinen Vater und sagen Sie mir endlich, was Sie von mir wollen“,
herrschte Sophia sie an. Diese Begegnung wurde immer gruseliger. Woher wusste
Madleen, wie Sophias Vater ausgesehen hatte? Madleen, Madleen … Kannten sie einander etwa? Von früher? Aus der
Zeit vor dem Unfall? Vielleicht waren sie Nachbarn gewesen? Blödsinn!
Aber
irgendwie kam sie Sophia bekannt vor, wenn sie nur wüsste … Sie musste sich
doch erinnern können. So ein Mist. Sie hasste es, dass sie einfach nichts mehr
von früher wusste!
„Ahhh!“
Sophia keuchte erschrocken auf, eine Hand auf ihren Bauch, die andere auf ihre
Stirn gepresst. Von Schmerzen überwältigt, dessen Ursache für sie genauso im
Verborgenen lag wie ihre Erinnerungen, sackte sie auf ihre Knie. Ihr Körper
brannte, als hätte man über ihren Kopf einen Krug kochendes Wasser geleert. So
heiß! So schmerzhaft! Es verbrannte sie! Oh
Gott, so heiß! Zwischen den unerträglichen Schmerzwellen, die sie nach Luft
schnappen ließen, tauchte ein Bild in ihrem Kopf auf.
Von
Madleen … Sophia und Madleen standen im – Schnee?
Madleen sah genauso aus wie heute, nur dass sie lediglich in einen hellblauen
Krankenhauskittel gekleidet war. Hohe Berge waren um sie herum. Wo standen sie? Wann war das gewesen? Warum war Madleen halbnackt und stand
trotzdem in der Kälte mitten in den Bergen?
Sophia
versuchte das verschwommene Bild festzuhalten, mehr zu erkennen, doch das
Ergebnis war nur noch stärkerer Schmerz, so dass sie aufgeben musste. Es ging
einfach nicht.
Oh, Gott sei Dank! Der Schmerz ließ langsam
nach. Sophia atmete schnell und flach,
stützte sich mit einer Hand an einer Hauswand ab und legte die andere stützend
unter ihren Bauch.
Madleen
betrachtete sie gelassen und machte keine Anstalten ihr aufzuhelfen.
Sophia
erhob sich nur mühselig. Der Schmerz war weg, als hätte sie ihn sich nur
eingebildet. Ihre Angst war jedoch so präsent wie nie zuvor, ebenso wie die befehlende
Stimme in ihrem Kopf.
Flieh! Flieh!
Ja,
es war mehr als ein Instinkt. Es war ein Befehl, der jede Faser und jeden
Muskel ihres Körpers aufforderte davon zu laufen, und Sophie wusste nicht, wie
lange sie sich diesen inneren, immer lauter und drängender werdenden Appell
noch entgegenstellen konnte … oder es wollte.
„Ah,
ich habe wohl bemerkt, dass du vergessen hast was, ah … Ich weiß nicht, wie ich
… Ich muss nachdenken. Ich habe nicht erwartet, dass ich nicht in deinen Kopf
eindringen kann, oder dass dich Schmerzen daran hindern könnten, dich zu
erinnern. Wir werden uns wiedersehen, meine junge Freundin, wenn ich eine
Lösung gefunden habe. Die einzige, die mir im Moment einfällt, behagt mir
nicht, aber ich kann nicht mehr lange warten. Die Zeit rinnt mir durch meine
Finger … Ich grüße dich.“
Sophia
starrte entsetzt zu der Stelle, an der die Fremde eben noch gestanden hatte.
Fort. Einfach verschwunden innerhalb eines Augenblinzeln. Das konnte doch nicht
... sie konnte doch nicht einfach von einer Sekunde zur nächsten weg sein?!
Die
ersten Sonnenstrahlen erreichten in diesem Moment die Stelle, an der Madleen
gestanden hatte, und erhellten den Bürgersteig.
„Ich
beschützte dich, mein Schatz“, murmelte Sophia zu ihrem Kind und legte ihre
Hände wieder auf ihren runden Bauch. Gefunden.
Ich wurde gefunden, dachte sie verwirrt. Wie ein Programm spulte sich
in ihrem Kopf der schon vertraute Befehl ab: Fliehen … Verstecken … Fliehen … Verstecken … darf nicht gefunden
werden! Flieh! Flieh! Flieh!
Und
vielleicht durch dieses `Mantra`, vielleicht aber auch trotz dessen und allein
durch die Begegnung mit Madleen ausgelöst, wurden tief in ihrem Geist
verborgene Erinnerungen freigeschaufelt. Kleinste Risse ihres zerstörten
Gedächtnisses heilten, noch bevor Sophia begriff, was gerade geschah.
Verborgenes, aus der Zeit vor dem Unfall, vor dem Tod ihrer Eltern. Fragmente,
aber klar und erschreckend:
Schreie, entsetzliche
Schreie unzähliger Kinder, gellten durch die Nacht. Der Gestank von Blut und
Tod hing in der Luft. Sophia war verwundet, jeder Muskel brannte vor
Anstrengung, doch sie zerrte die blonde, junge Frau, die viel schwerer verletzt
war als sie selbst, unbeirrbar mit sich. Sie durften nicht rasten. „Stirb
nicht. Halte durch!“, flehte sie die junge Frau an. Sie mussten auf das Dach.
Hoffentlich war er noch nicht ohne sie fortgeflogen. Oh Gott, bitte.
Schneller, schneller.
Sie kamen, oh Gott. Sie kamen immer näher. Schreie durchbrachen die Stille, die
Luft war geschwängert von dem Geruch von Blut und Tod, und sie kamen immer
näher. „Lass mich zurück. Du musst dich retten“, murmelte die verletzte, junge
Frau in ihren Armen. „Nein! Wir schaffen das. Halte durch!“
Die
Erinnerung brach ab und eine andere Szene tauchte auf, ein Ereignis, Jahre vor
dem Geschehen, was sie eben gesehen hatte.
Ein junges Mädchen lag
zusammengekrümmt in einem dunklen Raum auf einem nackten Steinboden. Nass,
kalt, stinkend war es dort. Oh
Gott. Eingesperrt. Ganz allein. So kalt …
so kalt. Im Bunker. Nein, sie wollte hier raus! Sie hatten sie in den Bunker
gesperrt! Jahre bevor der Tod die alten Mauern erobern würde, die Kinder
stehlen und beinahe auch die blonde, junge Frau mit sich genommen hätte, war
diesem Mädchen Unfassbares angetan worden. Sie hatte solche Angst, das Kind
hatte so eine entsetzliche Angst. Allein, absolute Dunkelheit … Oh Gott. Soviel Traurigkeit, so einsam …
Sophia
versuchte zu verstehen, was ihr beschädigtes Gehirn so urplötzlich an alten
Erinnerungen ausgespuckt hatte, aber die Erinnerung brach abrupt ab. Aus Angst
davor, dass sie wieder von Schmerzen gepeinigt werden würde, versuchte sie
nicht weiter in ihrem Gedächtnis zu forschen. Angst, Wut und Traurigkeit
überrollten sie wie ein Güterzug und hätten sie fast erneut in die Knie
gezwungen. Sie war dieses Mädchen in dem Bunker gewesen und dieselbe Angst
und Traurigkeit, die es, die sie, damals verspürt hatte, schnürte
ihr jetzt die Kehle zu. Wer hatte ihr so etwas Grausames nur angetan? Und
wieso?
Irritiert
starrte Sophia auf die rundliche, münzgroße Narbe an ihrem linken Unterarm und
strich mit dem Finger darüber. Die Narbe – sie tat weh wie eine frische Wunde.
„Du
hast die gleichen Augen wie dein Vater“, hatte Madleen gesagt.
Sophia
erinnerte sich nicht mehr daran, wie ihre Eltern ausgesehen hatten.
Madleens
Kichern hallte in ihrem Kopf wieder. „Das ist nicht dein Name.“
Das ist nicht dein Name!