Sonntag, 31. August 2014

Der Pakt - Kapitel neun #Vampirroman

Hallo Freunde der Nacht!
Es geht weiter in der Welt Zwischen Göttern und Teufeln, in der sexy Vampire noch Menschenblut trinken und die Menschen nicht unschuldige Opfer sind, sondern auch hart zurückschlagen können.

Viel Spaß und ein dunkles Lesevergnügen. Eure Laya Talis

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Sophia

Außer Atem lehnte sich Sophia mit ihrer Schulter gegen die Mauer des roten Backsteinhauses und suchte mit Blicken die Umgebung ab.
Mist. Wo war sie nur?

Sophia hatte im Stadtpark mehrere Fotos von einer toten Amsel geschossen. Den Vogel hatte sie im Rasen unter einer Eiche gefunden. Das schwarz gefiederte, tote Tier im Gras liegen zu sehen, hatte sie bewegt und nachdenklich gemacht. Der Vogel lag auf seinem Rücken, die schwarzen Schwingen dicht an seinen Körper angelegt und die Füßchen gekrümmt, als wolle es sich noch an einem Ast festkrallen, so als wäre er noch nicht bereit dazu, sein Leben loszulassen. Wie viele Menschen waren schon an ihm vorbeigegangen, ohne ihn zu beachten? Wieso sollte das auch jemand tun? Wen kümmerte schon der Tod eines Vogels? Aber eine andere Amsel würde es vielleicht bekümmern. Gab es hier irgendwo einen anderen seiner Art, der ihn vermisste? Oder gingen, flogen, sie alle weiter und verharrten nicht für eine Sekunde an seinem Totenbett?

Sophia fragte sich, wer an ihrem eigenen Grab stehenbliebe, wer sie vermissen würde. Lilli? Ja, natürlich. Lilli würde sie vermissen. Ein Jahr, vielleicht auch zwei Jahre lang. Sie waren Freunde, aber für Lilli war Sophia nicht mehr, denn der blondgelockte Engel hatte noch eine Familie. Ihr Leben würde sich ohne Sophia nicht einschneidend ändern … Und was war mit Alex? Nein, für ihn war sie schon längst kein Teil seines Lebens mehr. Sophia streichelte betrübt ihren Bauch. Würde es jemanden geben, der sich um ihr Baby kümmerte, wenn sie nicht mehr da wäre? Es lieben würde?

Während Sophia diesen düsteren Gedanken nachgehangen war, hatte sie plötzlich die seltsame kleine Frau bemerkt, die sie schon einige Male beobachtet hatte. Sie hockte gute zehn Meter von ihr entfernt, mit nackten Füßen und mit einem langen, schwarzen Mantel bekleidet, auf einem der unteren, dicken Äste einer alten Buche.
Sophia hatte endlich einen kurzen Blick in ihr blasses, herzförmiges Gesicht erhaschen können, bislang war es immer von ihrer Kapuze verdeckt gewesen.
Mein Gott.

Die Fremde war bildschön. Die Augen, groß, rund und stechend schwarz, hatten aus einem weißen, ebenmäßigen Gesicht zu ihr geblickt. Volle, bleiche Lippen eines bezaubernd verführerisch geschwungenen Mundes, waren zu einem spöttischen Lächeln verzogen. Eine gerade Nase und perfekt gebogene Augenbrauen komplettierten die verwirrende Mischung einer sinnlichen, aber unschuldig wirkenden, exotischen Schönheit. Ihre Züge waren sehr fein modelliert und scharf geschnitten. Ihre Haut war weiß wie Alabaster und bar jeden Makels und jeder Falte, als trüge sie eine wächserne Maske. Eine Maske, die lockte, verführte, verzauberte … aber Sophia ahnte, dass das, was sich dahinter verbarg, nichts von der Unschuld besaß, die ihr Anblick vortäuschte.

Einen Lidschlag später war die Fremde elegant wie eine Katze von dem Baum gesprungen und begann sich mit langsamen Schritten von Sophia fortzubewegen.
Sophia hatte nicht gezögert und war ihr entschlossen mit geschultertem Rucksack nachgelaufen. Jetzt war Schluss! Sie wollte wissen, wer diese Person war. Doch immer wenn Sophia ihr Tempo erhöht hatte, war auch die Fremde schneller geworden, so dass sich der Abstand zwischen ihnen nicht veränderte.

So liefen sie seit über einer Stunde durch die Stadt, als spielten sie ein absonderliches Spiel gegeneinander, bis es Sophia hierher gebracht hatte und die Fremde plötzlich verschwunden war. Sophia war auch schon am Ende ihrer Kräfte. Sie war zwar trotz ihrer Schwangerschaft gut in Form, da sie noch immer täglich weite und lange Spaziergänge unternahm, aber dieses Tempo saugte ihre letzten Reserven auf.
„Wo bist du?“, flüsterte Sophia. Sie rechnete natürlich nicht mit einer Antwort, umso erschrockener war sie, als sie eine bekam.
„Hinter dir!“, hörte sie eine kindlich-hohe Stimme.

Laut einatmend wirbelte Sophia herum und da stand sie. Mist, diese Fremde war vielleicht schnell und leise! Just in dem Augenblick, in dem sie sich endlich gegenüberstanden, begann es zu dämmern und die Frau schaute prüfend zum Himmel, die Augen zu zwei Schlitzen zusammengezogen. Sie war sehr zierlich und klein, höchstens einen Meter sechzig, so dass Sophia sie locker um einen halben Kopf überragte.

„Du weißt nicht, wer du bist? Oder doch?“, fragte die Fremde und sah wieder zu Sophia. Sie legte ihren Kopf leicht schräg, das Gesicht halb im Schatten, und musterte Sophia ausgiebig und ungeniert von oben bis unten. Ihre Worte schienen einer eigenen Melodie zu folgen, wobei sie das ´R´ auffällig rollte und die Vokale in die Länge zog. Sophia konnte diesen Akzent keinem Land zuordnen, aber er passte zu ihr. Er klang einerseits schmeichelnd und verführerisch, und doch unterstrich er ihre Jugend und ließ sie verletzlich wirken. Sie sah nicht älter aus als achtzehn Jahre. Der Blick aus ihren Augen, die sich bei Nahem als dunkelbraun entpuppten, war dagegen alt. Es lag eine Tiefe und Erfahrung darin, welche eine so junge Frau nicht besitzen sollte. Diese Augen hatten zu viel gesehen. Zu viel – Wissen lag in ihnen.

„Sagen Sie mir sofort, wer sind Sie und wieso Sie mir folgen!“ Sophia hob fragend ihre linke Augenbraue und verzog missbilligend den Mund.
Die Fremde schnalzte verärgert mit ihrer Zunge. „Ah, wer ich bin? Du folgtest doch soeben mir, nicht wahr? Und muss man nicht erst sich selbst kennen, bevor man andere zu erkennen in der Lage ist?“

Sophia tat einen Schritt zurück. Was war das denn für eine schwachsinnige Antwort? Die Fremde lächelte sie erneut an und wandte ihren Kopf so, dass das Licht einer Straßenlaterne ihr Gesicht beschien und kein Schatten mehr etwas von ihr im Verborgenen hielt. Oh Gott. Sophia hatte noch nie jemanden gesehen, der dermaßen schön und – perfekt aussah! Zu perfekt, um noch natürlich auszusehen. Zudem verliehen die Makellosigkeit ihrer Haut und der blasse Teint ihrer Züge eine Starre, als wäre sie leblos wie eine Statue. Unfassbar schön, aber dennoch aus Stein.

Sophia fröstelte es bei ihrem Anblick. Flieh! Flieh so schnell du kannst! schallte es in ihrem Kopf. Es war bezwingend wie ein Befehl, wie ein … Befehl. Sophia kämpfte gegen diesen durchdringenden Instinkt, der sie zur Flucht rief, mit all ihrer Willensstärke an. Denn er war irrational, nur auf niedere Gefühle von Angst zurückzuführen, die nüchtern betrachtet keinen Sinn ergaben. Vor ihr stand eine kleine, schmächtige Frau und sie beide befanden sich in einem Wohnviertel. Kein Ort für einen Angriff und wenn die Fremde nicht bewaffnet war oder eine Kampfausbildung genossen hatte, sollte sie auch für Sophia in ihrem schwangeren Zustand keine Gefahr darstellen. Ganz abgesehen davon, dass ihr plötzliches Auftreten erstaunlich war, war ihr Verhalten nicht bedrohlich. Wieso versuchte alles in Sophia sie dennoch zu zwingen, sofort wegzurennen?

„Sie beobachten mich. Ich habe Sie vor meiner Wohnung gesehen und deswegen bin ich Ihnen eben nachgerannt. Also! Was wollen Sie von mir und wer sind Sie?“, fragte Sophia und legte ihre Hände wie zum Schutz auf ihren Bauch. Sofort folgte die Fremde mit ihrem Blick dieser Bewegung und das maskengleiche Gesicht wurde noch verschlossener. Die dunklen Augen dominierten das schöne Gesicht, vor allem wegen des stechenden Blickes, der bei Anna eine Gänsehaut verursachte.
Flieh! Flieh!

„Oh ja. Ich beobachtete dich bereits seit einigen Wochen und ich bemerkte sofort, dass du ein Kind trägst, Sophia.“ Die Schöne versuchte nicht einmal zu verbergen, dass sie ihr nachgestellt hatte. Dass sie sie auf ihre Schwangerschaft ansprach, steigerte Sophias vernunftwidrige Furcht.
Flieh! Flieh!

Sie kennt meinen Namen, wunderte sich Sophia und schaute sich gleichzeitig um. Sie waren allein, denn um diese frühe Stunde ließ sich niemand auf der Straße oder in den gepflegten Vorgärten sehen. Es war offensichtlich kein guter Zeitpunkt, sich mit seiner unbekannten Stalkerin zu treffen.
„Sie kennen meinen Namen, aber ich nicht Ihren. Also, wer sind Sie?“, beharrte Sophia tapferer weiter, als sie sich fühlte. Der Trieb davonzurennen, sich zu verstecken, wurde immer größer.
Flieh, flieh so schnell du kannst. Niemand darf dich finden.

„Ah, ich kenne deinen Namen, aber kennst du ihn auch? Leider nicht, nicht wahr?“, fragte die kleine Frau und zog die schwarze Kapuze ihres Mantels tiefer ins Gesicht, so dass Sophia nur noch ihren Mund erkennen konnte. „Das ist höchst bedauerlich.“
Was? Was …?“ -soll dieser ganze Unsinn! Sophia seufzte und entschied, die Frau nochmals freundlich zu fragen: „Wer sind Sie?“, während sie den Abstand zu ihr vergrößerte.
„Ich bin Madleen. Sophia … Sophia Winter. Wieso nennst du dich nicht Herbst oder Frühling?“ Sie kicherte. „Der Winter ist doch so kalt. Wer mag ihn schon, ah?“
Madleen? Madleen … Sophia unterdrückte ein Schaudern. Nur die Nennung dieses Namens, ließ ihre Instinkte erneut aufschreien.
Renn so schnell du kannst! Niemand darf dich finden.

Madleen kicherte schon wieder. Es klang wie das Lachen eines kleinen Mädchens. Eine Spur spöttisch, mit einer Prise Bosheit darin. Ein gemeines, kleines Mädchen. Die Art von kleinem Mädchen, das ihren Puppen die Köpfe abriss. „Sophia Winter. Ah! Wie erheiternd. Nein, meine junge Freundin. Das ist nicht dein Name.“ Sie kam mit zwei tänzelnden Schritten auf Sophia zu und schielte unter ihrer Kapuze zu ihr herauf. „Du riechst gut.“
Du riechst gut? Um der aufgezwungene Nähe auszuweichen, trat Sophia ein Stück zur Seite, dichter an die Hauswand heran. „Ich weiß nicht, wovon Sie sprechen. Ich will, dass Sie sich von mir fernhalten!“, sagte Sophia und neben ihrer größer werdenden Furcht, wurde sie auch wütend. Die befehlende Stimme in ihr, mehr Gefühl als ausgesprochene Worte, schrie immer lauter.
Flieh! Verstecken! Niemand darf dich finden!

Das, liebe junge Freundin, kann ich nicht tun. Ich habe Jahre nach dir gesucht und werde dich nicht wieder gehen lassen. Ich muss wissen … ich-“, sie gab ein schnurrendes Geräusch von sich und anstatt ihren Satz endlich zu beenden sagte sie: „Du gehörst mir.“
„Wie bitte? Ich gehöre Ihnen ganz bestimmt nicht. Sind Sie vielleicht betrunken?“ Sophia hörte, wie ein Motor gestartet wurde.
Madleen kicherte wieder. „Ich habe heute Nacht noch nicht getrunken. Bietest du dich mir an?“
„Ich … Was?“ Sophia blinzelte verwirrt. Das war eine Verrückte. Mist. Vor ihr stand eine verrückte Stalkerin.

„Du hast die gleichen Augen wie dein Vater, die gleichen Züge und die gleiche Mimik.“ Diese seltsame Bemerkung klang wie ein Vorwurf und Madleen tänzelte erneut auf ihren nackten Füßen näher zu Sophia heran. Eine Nähe, die Sophia das Blut in den Adern gefrieren ließ. So klein Madleen auch war, strahlte sie plötzlich trotzdem eine ungeheure Macht aus, als hätte sie sie vorher bewusst verborgen. Sie umgab eine kühle Aura, die Sophia nicht sehen aber als leichtes Kribbeln auf ihrer Haut spüren konnte.
Flieh! Flieh!

„Ah, was geht nur in deinem Kopf vor? Ich kann es nicht ergründen. Du bist nicht nur das Ebenbild deines Vaters, sondern offensichtlich auch genauso … ah, dickköpfig wie er. Das mag ich nicht“, knurrte Madleen und zog sich die Kapuze so tief in die Stirn, dass ihr Gesicht beinahe ganz darunter verschwand.
„Sprechen Sie nicht von meinen Vater und sagen Sie mir endlich, was Sie von mir wollen“, herrschte Sophia sie an. Diese Begegnung wurde immer gruseliger. Woher wusste Madleen, wie Sophias Vater ausgesehen hatte? Madleen, Madleen … Kannten sie einander etwa? Von früher? Aus der Zeit vor dem Unfall? Vielleicht waren sie Nachbarn gewesen? Blödsinn!
Aber irgendwie kam sie Sophia bekannt vor, wenn sie nur wüsste … Sie musste sich doch erinnern können. So ein Mist. Sie hasste es, dass sie einfach nichts mehr von früher wusste!
„Ahhh!“ Sophia keuchte erschrocken auf, eine Hand auf ihren Bauch, die andere auf ihre Stirn gepresst. Von Schmerzen überwältigt, dessen Ursache für sie genauso im Verborgenen lag wie ihre Erinnerungen, sackte sie auf ihre Knie. Ihr Körper brannte, als hätte man über ihren Kopf einen Krug kochendes Wasser geleert. So heiß! So schmerzhaft! Es verbrannte sie! Oh Gott, so heiß! Zwischen den unerträglichen Schmerzwellen, die sie nach Luft schnappen ließen, tauchte ein Bild in ihrem Kopf auf. 

Von Madleen … Sophia und Madleen standen im – Schnee? Madleen sah genauso aus wie heute, nur dass sie lediglich in einen hellblauen Krankenhauskittel gekleidet war. Hohe Berge waren um sie herum. Wo standen sie? Wann war das gewesen? Warum war Madleen halbnackt und stand trotzdem in der Kälte mitten in den Bergen?
Sophia versuchte das verschwommene Bild festzuhalten, mehr zu erkennen, doch das Ergebnis war nur noch stärkerer Schmerz, so dass sie aufgeben musste. Es ging einfach nicht.
Oh, Gott sei Dank! Der Schmerz ließ langsam nach. Sophia atmete  schnell und flach, stützte sich mit einer Hand an einer Hauswand ab und legte die andere stützend unter ihren Bauch.

Madleen betrachtete sie gelassen und machte keine Anstalten ihr aufzuhelfen.
Sophia erhob sich nur mühselig. Der Schmerz war weg, als hätte sie ihn sich nur eingebildet. Ihre Angst war jedoch so präsent wie nie zuvor, ebenso wie die befehlende Stimme in ihrem Kopf.
Flieh! Flieh!

Ja, es war mehr als ein Instinkt. Es war ein Befehl, der jede Faser und jeden Muskel ihres Körpers aufforderte davon zu laufen, und Sophie wusste nicht, wie lange sie sich diesen inneren, immer lauter und drängender werdenden Appell noch entgegenstellen konnte … oder es wollte.
„Ah, ich habe wohl bemerkt, dass du vergessen hast was, ah … Ich weiß nicht, wie ich … Ich muss nachdenken. Ich habe nicht erwartet, dass ich nicht in deinen Kopf eindringen kann, oder dass dich Schmerzen daran hindern könnten, dich zu erinnern. Wir werden uns wiedersehen, meine junge Freundin, wenn ich eine Lösung gefunden habe. Die einzige, die mir im Moment einfällt, behagt mir nicht, aber ich kann nicht mehr lange warten. Die Zeit rinnt mir durch meine Finger … Ich grüße dich.“

Sophia starrte entsetzt zu der Stelle, an der die Fremde eben noch gestanden hatte. Fort. Einfach verschwunden innerhalb eines Augenblinzeln. Das konnte doch nicht ... sie konnte doch nicht einfach von einer Sekunde zur nächsten weg sein?!
Die ersten Sonnenstrahlen erreichten in diesem Moment die Stelle, an der Madleen gestanden hatte, und erhellten den Bürgersteig.
„Ich beschützte dich, mein Schatz“, murmelte Sophia zu ihrem Kind und legte ihre Hände wieder auf ihren runden Bauch. Gefunden. Ich wurde gefunden, dachte sie verwirrt. Wie ein Programm spulte sich in ihrem Kopf der schon vertraute Befehl ab: Fliehen … Verstecken … Fliehen … Verstecken … darf nicht gefunden werden! Flieh! Flieh! Flieh!
Und vielleicht durch dieses `Mantra`, vielleicht aber auch trotz dessen und allein durch die Begegnung mit Madleen ausgelöst, wurden tief in ihrem Geist verborgene Erinnerungen freigeschaufelt. Kleinste Risse ihres zerstörten Gedächtnisses heilten, noch bevor Sophia begriff, was gerade geschah. Verborgenes, aus der Zeit vor dem Unfall, vor dem Tod ihrer Eltern. Fragmente, aber klar und erschreckend:

Schreie, entsetzliche Schreie unzähliger Kinder, gellten durch die Nacht. Der Gestank von Blut und Tod hing in der Luft. Sophia war verwundet, jeder Muskel brannte vor Anstrengung, doch sie zerrte die blonde, junge Frau, die viel schwerer verletzt war als sie selbst, unbeirrbar mit sich. Sie durften nicht rasten. „Stirb nicht. Halte durch!“, flehte sie die junge Frau an. Sie mussten auf das Dach. Hoffentlich war er noch nicht ohne sie fortgeflogen. Oh Gott, bitte.
Schneller, schneller. Sie kamen, oh Gott. Sie kamen immer näher. Schreie durchbrachen die Stille, die Luft war geschwängert von dem Geruch von Blut und Tod, und sie kamen immer näher. „Lass mich zurück. Du musst dich retten“, murmelte die verletzte, junge Frau in ihren Armen. „Nein! Wir schaffen das. Halte durch!“

Die Erinnerung brach ab und eine andere Szene tauchte auf, ein Ereignis, Jahre vor dem Geschehen, was sie eben gesehen hatte.

Ein junges Mädchen lag zusammengekrümmt in einem dunklen Raum auf einem nackten Steinboden. Nass, kalt, stinkend war es dort. Oh Gott. Eingesperrt. Ganz allein. So kalt … so kalt. Im Bunker. Nein, sie wollte hier raus! Sie hatten sie in den Bunker gesperrt! Jahre bevor der Tod die alten Mauern erobern würde, die Kinder stehlen und beinahe auch die blonde, junge Frau mit sich genommen hätte, war diesem Mädchen Unfassbares angetan worden. Sie hatte solche Angst, das Kind hatte so eine entsetzliche Angst. Allein, absolute Dunkelheit … Oh Gott. Soviel Traurigkeit, so einsam …

Sophia versuchte zu verstehen, was ihr beschädigtes Gehirn so urplötzlich an alten Erinnerungen ausgespuckt hatte, aber die Erinnerung brach abrupt ab. Aus Angst davor, dass sie wieder von Schmerzen gepeinigt werden würde, versuchte sie nicht weiter in ihrem Gedächtnis zu forschen. Angst, Wut und Traurigkeit überrollten sie wie ein Güterzug und hätten sie fast erneut in die Knie gezwungen. Sie war dieses Mädchen in dem Bunker gewesen und dieselbe Angst und Traurigkeit, die es, die sie, damals verspürt hatte, schnürte ihr jetzt die Kehle zu. Wer hatte ihr so etwas Grausames nur angetan? Und wieso?
Irritiert starrte Sophia auf die rundliche, münzgroße Narbe an ihrem linken Unterarm und strich mit dem Finger darüber. Die Narbe – sie tat weh wie eine frische Wunde.
„Du hast die gleichen Augen wie dein Vater“, hatte Madleen gesagt.
Sophia erinnerte sich nicht mehr daran, wie ihre Eltern ausgesehen hatten.
Madleens Kichern hallte in ihrem Kopf wieder. „Das ist nicht dein Name.“
Das ist nicht dein Name!


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